Kapitel 19: Familientreffen - Teil 2

 

Jessica marschiert mit strammen Schritten zurück in die Küche und ich stehe immer noch vor der Toilettentür und kann mir keinen Reim auf ihr Verhalten machen. Ich bin mal wieder der, der mit einem Fragezeichen im Gesicht zurückbleibt. Mal wieder der, der mit seinen Emotionen klarkommen muss, während Jessica sich verschließt und mich spürbar auf einer Armlänge Abstand hält. Wisst ihr, irgendwie bin ich es einfach nur noch leid. Dieses Hin- und Hergeschubse, dieses mal so mal so, diese ständigen Auseinandersetzungen um Nichts. Ich atme einmal tief durch und gehe dann mit langsamen Schritten zurück ins Esszimmer.

 

 

 

Nach dem Essen spülen Jessica und Melinda das Geschirr, während meine Eltern im Garten die Pflanzen pflegen. Ich sitze alleine im Wohnzimmer und starre auf mein Handy, als ob meine Zukunft darin geschrieben stünde.

 

 

 

Gerade, als ich es weglegen will, erklingt der Nachrichtenton und mein Blick liegt sofort wieder auf dem Bildschirm. Ich lese den Namen „Kendra“ auf dem Display. Fast automatisch runzele ich die Stirn leicht. Ich glaube, dass ich bisher noch nie wirklich mit Kendra geschrieben habe. Was könnte sie jetzt wollen? Um das herauszufinden, öffne ich ihre Nachricht. Gespannt scannen meine Augen jeden Buchstaben ab und ich lese:

 

 

„Hi Chris“

 

 

Und das wars auch schon. Meine Stirn ist jetzt noch gerunzelter als vorher. Es wundert mich, dass sie aus heiterem Himmel Hallo sagen möchte. Ich tippe eine Nachricht zurück:

 

 

„Hallo wie geht’s?“

 

 

Kendra scheint gerade ebenfalls an ihrem Handy zu sein, denn sofort sehe ich, dass sie eine Antwort verfasst. Nach einigen Sekunden bekomme ich folgendes:

 

 

„Ganz gut danke. Und dir? Bist du schon zuhause angekommen?“

 

 

Als ich das lese, muss ich leicht kichern. Es ist hier schon so hektisch geworden, dass man meinen könnte, wir wären seit Tagen hier, dabei wird es erst jetzt langsam dunkel.

 

 

„Danke mir geht’s auch gut. Ich bin das Wochenende bei meinen Eltern“

 

 

Ich achte darauf, dass ich beide Fragen beantworte. Jessica hat die nervige Angewohnheit, mir in Textform immer nur die Frage zu beantworten, die ich als letztes gestellt habe. Sobald ich ihr in einem Satz zwei Fragen stelle, bekomme ich nur auf eine die Antwort. Total nervig, glaubt mir.

 

 

„Oh, wie schön. Leben sie nah bei dir?“, lese ich Kendras Nachricht.

 

„Nicht ganz :-)“, schreibe ich mit einem Lächeln im Gesicht.

 

 

 

„Du hast aber sehr viel Spaß an deinem Handy“, höre ich Jessicas Stimme. Mein Lächeln verschwindet sofort und ich starre sie an. „Mit wem schreibst du denn?“, fragt sie mich. Mein Gesichtsausdruck ist wie eingefroren, während ich mir eine Erklärung überlege. „Ich war gar nicht am schreiben“, sage ich schließlich. Sie verschränkt die Arme und starrt mir direkt in meine Augen. „Und die ganzen Tippgeräusche deines Handys habe ich mir wohl auch eingebildet“, gibt sie trocken zurück. Ich schlucke. Auf keinen Fall kann ich ihr sagen, dass ich mit Kendra geschrieben habe. Sie würde ausrasten. „Also doch, ich habe schon geschrieben, aber... mit Carlos!“, erkläre ich und mache große Augen. Jessica sagt nichts, doch ich erkenne an ihrem Gesichtsausdruck, dass ihre Zweifel nicht im Geringsten verschwunden sind. Wenn man so viel Zeit mit jemandem verbracht hat, weiß man die Mimik derjenigen Person wie ein Buch zu lesen. Ich schätze, das hat sie auch gerade bei mir getan.

 

 

„Soll ich das glauben, Chris? Wieso gerade mit Carlos?“, fragt Jessica. Nun dürfte auch der letzte gehört haben, wie unüberzeugt sie ist. Ich spüre buchstäblich, wie sich Schweiß auf meiner Stirn bildet. Doch dann fällt mir etwas ein: „Naja in zwei Wochen oder so ist doch die Verabschiedungsfeier von Prof. Dr. Clarke, oder?“, stammle ich. „Carlos organisiert das doch mit. Er hat mich nur gefragt, ob ich ihm bei etwas helfen kann“, füge ich hinzu. Gespannt sehe ich in Jessicas Gesicht. Die Verabschiedungsfeier müsste eine gute Ausrede sein, denn Jessica sollte davon auch gehört haben. Ich habe mir sagen lassen, dass Prof. Dr. Clarke einer der ältesten Mitarbeiter im Archäologiezentrum sei. Er geht bald in Rente, weshalb es in zwei oder drei Wochen eine Abschiedsfeier für ihn geben wird. Ich bin eigentlich noch nicht lange genug dabei, um wirklich eine Verbindung zu ihm zu haben, aber zu seiner Ehren werde ich natürlich auch hingehen. Tatsächlich hatte ich schon vorher Literatur von ihm gelesen, denn antike Sim-Zivilisationen sind sein Spezialgebiet.

 

 

„Na dann“, sagt Jessica nur und verschwindet so schnell wie sie aufgetaucht war.

 

 

 

Nachdem sie weg ist, sehe ich, dass Kendra schon die nächste Nachricht geschickt hat, aber ich wage es nicht, sie jetzt zu lesen. Jessica hat sich wie ein Puma an mich herangeschlichen und wer weiß, wo sie noch auftauchen könnte. Stattdessen entscheide ich mich fernzusehen.

 

 

Kurz vor 22 Uhr sieht meine Mutter Wren und Vanessa in der Auffahrt parken. „Sie sind da, kommt mit raus!“, ruft sie uns zu und läuft als erste voraus. Wir gehen alle zusammen nach draußen und meine Mutter nimmt meine Geschwister sofort in den Arm.

 

 

 

Alle sprechen hektisch durcheinander, doch irgendwie hören wir uns gleichzeitig auch zu.

 

 

 

„Gehen wir rein, es ist schrecklich kalt, ihr werdet noch alle krank“, sagt meine Mutter und scheucht uns ins Haus. Sie hatte uns doch aus dem Haus gejagt, oder nicht? Wren und Vanessa müssen meiner Mutter gefühlt zehnmal erklären, dass sie nichts essen möchten und trotzdem fragt meine Mutter noch ein elftes Mal, ob sie denn nicht Hunger hätten. Schließlich setzen wir uns alle ins Wohnzimmer, wo uns prompt auffällt, dass wir zu wenig Sitzplatz haben. Melinda möchte sich auf den Teppich setzen und ich biete Jessica den letzten Platz auf der Couch an. Meine Mutter wendet sich an Jessica: „Hol doch einen Stuhl aus der Küche rüber.“ Ich will an ihrer Stelle losgehen, doch sie hält mich zurück. „Ich geh‘ schon“, sagt sie und verschwindet kurz. Ich setze mich zu meinen Geschwistern. „Ein Wunder, dass wir es mal geschafft haben, alle hier zu sein“, lacht meine Schwester. Jessica kommt mit dem Stuhl zurück und setzt sich zu uns. „Jessica? Wie kommt’s eigentlich?“, fragt Wren. Die beiden wissen natürlich auch noch nicht, was alles passiert ist. Ich erkläre ihnen, genau so wie meinen Eltern, kurz die Situation und erhalte leichtes Kopfnicken im Gegenzug. „Was für ein seltsamer Zufall, dass ihr in dieselbe Stadt gezogen seid.“, bemerkt Vanessa. „Und denselben Arbeitsplatz habt.“, ergänzt Wren. Ich blinzle kurz ein- oder zweimal und überlege was ich dazu sagen könnte. „Naja in Willow Creek gibt’s nunmal nur ein Archäologiezentrum.“, sage ich schließlich. „Oh, richtig. Wie läuft‘s mit dem Buddeln eigentlich?“, fragt mich Wren lachend. Vanessa hat auch ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Das missfällt mir ehrlich gesagt etwas. Die beiden haben sich schon immer gerne ein wenig lustig über mich gemacht, weil ich mich für so einen unkonventionellen Berufsweg entschieden habe. Vanessa arbeitet in einem Büro als Sekretärin und Wren ist Chemiker. Er ist besonders hochnäsig, aber meint es in der Regel wirklich nicht böse. Eine Hassliebe, wie ich schonmal erwähnt habe.

 

 

 

Meine Mutter schneidet das Thema an, das ihr natürlich am wichtigsten ist. „Sag mal Wren, wann wird es denn endlich mal ernst mit dir und Amelia?“, stochert sie. Wren sieht sofort genervt aus: „Wenn es halt so weit ist. Keine Ahnung, Mama.“ Meine Mutter schüttelt den Kopf und richtet ihren Blick auf Vanessa. „Und willst du für immer diesem Trottel hinterherweinen? Geh raus und lern einen richtigen Mann kennen!“, sagt sie energisch. Vanessa verzieht das Gesicht. „Danke, sehr einfühlsam von dir, Mama.“ Dann verdreht sie die Augen. Meine Mutter verschränkt die Arme und lässt sich tiefer ins Sofa fallen. „Chris ist also der einzige der hier ein geregeltes Leben lebt, oder was?“, sagt sie noch. Geregelt würde ich es nicht unbedingt nennen, aber schön, wenn sie das denkt. Jessicas Blick wandert langsam von Gesicht zu Gesicht. Ihre Gedanken würden mich interessieren…

 

 

Mein Vater schüttelt mit dem Kopf. „Da sind die Kinder einmal da und du musst ihnen gleich so auf die Nerven gehen, Sally!“, ruft er ihr aufgebracht zu. Ich schlucke. Was für ein Chaos. Gerade eben waren wir noch alle glücklich uns zu sehen und jetzt ist jeder irgendwie wütend. Niemand mag es, wenn seine Schwachstellen angesprochen werden. Das kenne ich nur zu gut.

 

 

 

Um die Stimmung etwas aufzulockern, beginne ich zu erzählen: „Jessica und ich kommen gerade aus Oasis Springs. Wir waren auf einer kleinen Ausgrabung dort und wir haben einige coole Sachen gefunden. Sogar ein paar Knochen, habe ich gehört.“, erzähle ich strahlend. Alle schauen mich an und geben keinen Ton von sich. „Wie schön.“, sagt mein Vater und seine Augen lachen mich an. Danach herrscht wieder Schweigen.

Also ich hab’s zumindest versucht.

 

 

 

Kurz darauf ging auch schon jeder langsam ins Bett, immerhin war es doch schon sehr spät geworden. Ob einer von ihnen die Augen wirklich zubekam weiß ich nicht. Kurz bevor ich mich ebenfalls bettfertig machen wollte, laufe ich meiner Mutter in der Küche über den Weg. „Ach, Chris. Wie gut, dass du noch nicht deinen Schlafanzug anhast. Könntest du bitte den Müll kurz draußen in die Tonne werfen? Der stinkt fürchterlich! Bis morgen wird der ganze Raum nach einer Kläranlage riechen!“, erklärt sie mir, während sie den Müllsack bereits zubindet. Ich habe eigentlich wirklich keine Lust, aber der Geruch ist wahrhaftig widerwärtig. Sie drückt mir den Müll in die Hand, bedankt sich und geht die Treppen in ihr Schlafzimmer hoch. Ich seufze und mache mich auf den Weg zur Tonne vor dem Haus. Es regnet und es ist stockfinster, doch eine Straßenlampe steht direkt bei der Tonne. Dort angekommen, werfe ich den Müll schnell hinein.

 

 

 

Nachdem ich den Müll entsorgt hatte, wollte ich sofort zurück ins Haus. Gerade als ich gehen will, höre ich ein lautes Knacken von der Hecke auf der anderen Straßenseite.

 

 

 

Ich zögere kurz. Es folgen keine Geräusche mehr. „Wie komisch…“, murmele ich und laufe schnell zurück ins Haus.

 

 

Ich hätte schwören können, dass dort etwas gewesen ist…